USA-Demokratie in Gefahr?

Trumps letztes Aufgebot

Washington Post – 4. Jänner 2021

Ishaan Tharoor und Ruby Mellen

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Trumps erbitterter Kampf und die Fragilität der US-Demokratie

Den Amerikanern steht heute am Mittwoch ein wütendes Spektakel bevor. Unabhängig von den Ergebnissen der Senats-Stichwahlen in Georgia, die am Dienstag stattfanden, wird der Showdown in Washington einen düsteren Schlusspunkt unter die turbulente Amtszeit von Präsident Trump setzen.

Die Botschaft an fanatische Anhänger: “Weicht nicht zurück!”

Auf den Straßen der Hauptstadt planen Trump-Anhänger, gegen den bevorstehenden Bestätigung des designierten Präsidenten Joe Biden zu protestieren. In einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses wird eine Gruppe republikanischer Abgeordneter, die loyal zu Trump stehen, die Bestätigung der Wahlmännerstimmen anfechten. Was eigentlich eine verfahrenstechnische Formalität sein sollte, wird eskalieren. Dank Trumps unbegründetem Beharren auf Betrugsvorwürfen und indem er seine Anhänger mit Verschwörungstheorien rund um seine Niederlage einnebelt wird er sein spaltendes politisches Theater weiter betreiben. Und obwohl es unwahrscheinlich ist, dass Trump Erfolg haben wird, stellt sein Schachzug einen weiteren Stresstest für die amerikanische Demokratie dar.

Machterhalt um jeden Preis?

Trump, der die Abstimmung des Volkes zweimal verloren hat und Ende 2019 vom Repräsentantenhaus angeklagt wurde, hat Dutzende von rechtlichen Anfechtungen seiner Kampagne von den Gerichten abgewiesen bekommen. Jeder US-Bundesstaat, auch die von Republikanern regierten, hat die abgegebenen Stimmen seiner Wähler bestätigt. Doch Trump hat sich an seine Phantasien geklammert und wollte mit Lügen über illegal abgegebene Stimme die Wahlen in Swing-Staaten nun wiederholen lassen. Um jeden Preis und mit jedem Mittel sollte neu gewählt werden, auch auf Basis von Lügen wie der unbewiesenen Behauptung von Stimmzettel von toten Menschen und anderen Fehlverhalten der lokalen Wahlbehörden.

“Kein Beweis – das ist der Beweis!” ???

“Für Millionen von hypnotisierten Trump-Republikanern, die denken, dass das Fehlen von Beweisen der unheimlichste Beweis ist, beweist dies, dass auch die Gerichte Tentakel des ‘tiefen Staates’ sind”, schrieb Will. “Hawley und Cruz. Beide haben für die Richter des Obersten Gerichtshofs gearbeitet haben und hoffen, von den Böen dieser Paranoia ins Weiße Haus geweht zu werden.”

Große Sorgen im Ausland.

Im Ausland blicken Experten mit Besorgnis darauf. “Viele Leute werden nur mit den Augen rollen und darauf warten, dass die Zeit abläuft”, sagte Leslie Vinjamuri, Direktorin des USA- und Amerika-Programms am Londoner Chatham House, der New York Times. “Aber das bei weitem Beunruhigendste ist die Anzahl der Republikaner, die bereit sind, mit Trump mitzugehen, und was dies der Republikanischen Partei antun wird was sich da nun abspielen wird.”

Nichteinmal zehn Verteidigungsminister …

Noch vor ein paar Monaten wurde die Idee, dass Trump versuchen würde, sich mit allen Mitteln an die Macht zu halten, als weit hergeholt angesehen. Diese Woche drängten alle zehn lebenden ehemaligen US-Verteidigungsminister – darunter zwei, die unter Trump gedient haben – in einem von der Washington Post veröffentlichten Kommentar darauf, einen normalen Übergang zuzulassen. “Die Zeit, um die Ergebnisse in Frage zu stellen, ist vorbei”, schrieben sie. “Die Zeit für die formelle Auszählung der Stimmen des Wahlmännerkollegiums, wie in der Verfassung und den Gesetzen vorgeschrieben, ist gekommen.”
“Sollten wir in Bezug auf die US-Demokratie beruhigt sein, wenn zehn ehemalige Verteidigungsminister vor dem Einsatz des Militärs zur Anfechtung von Wahlergebnissen warnen”, twitterte Jean-Marie Guéhenno, ein ehemaliger französischer und UN-Diplomat, “oder erschrocken darüber, dass sie glauben, eine öffentliche Stellungnahme sei notwendig geworden?”

Verbogene Wahrheit zerstört Vertrauen nachhaltig!

Selbst nach den Ereignissen dieser Woche und Bidens Amtseinführung Ende des Monats ist es sicher, dass ein erheblicher Teil der amerikanischen Öffentlichkeit den neuen Präsidenten als illegitim und die von Millionen ihrer Landsleute abgegebenen Stimmen als ungültig ansehen wird.

Dies spiegelt die tiefe Polarisierung in der amerikanischen Gesellschaft wider – viele Demokraten fanden Trumps Sieg im Jahr 2016 schwer verdaulich – aber auch die Wachstumsschmerzen eines politischen Systems, das sowohl ehrwürdig als auch jung ist. Das Wahlmännerkollegium ist ein jahrhundertealtes Relikt, das zu einer Zeit entwickelt wurde, als der großen Mehrheit der Menschen im Land das Wahlrecht verwehrt war.

Fanatismus und Rassismus – alter Südstaatengeist?

Aber die dünn kodierten rassistischen Botschaften von Trump und seinen Verbündeten über “illegale” Stimmen in den Innenstädten sind eine Sprache, die die amerikanische Politik seit der Verabschiedung des Voting Rights Act im Jahr 1965 verfolgt, der rechtliche Barrieren für schwarze Wähler in verschiedenen Bundesstaaten abschaffte. “Wir sind daran gewöhnt, uns Amerika als eine alte Demokratie vorzustellen”, schrieb der liberale Kommentator Peter Beinart. “Aber als eine multirassische Demokratie ist es jung – sogar jünger als einige postkoloniale Nationen in der Dritten Welt.” Er fügte hinzu, dass “der einzige Weg, den Sieg der Demokratie zu sichern, darin besteht, anzuerkennen, wie zerbrechlich die amerikanische Demokratie schon immer war.”

“Verbrannte Erde” oder Untergang eines Autokraten

Für Wissenschaftler, die sich mit der Politik sogenannter starker Männer beschäftigen, sind von Trumps Verhalten nicht überrascht.  “Trump ist als Präsident eher einem autoritären als einem demokratischen Regiebuch gefolgt”, schreibt Ruth Ben-Ghiat, Historikerin an der New York University. “Es ist passend, dass er wie einige der bekanntesten Autokraten der Geschichte enden wird: zusammengekauert in seinem Bunker, umgeben von seiner jüngsten Ernte an verstörten Loyalisten, wird er erbärmlich versuchen, der Realität seiner Niederlage zu entkommen.”

Schwerwiegende  Polarisierung und Spaltung?

Analysten machen sich mehr Sorgen um die republikanischen Funktionäre, die im Gleichschritt hinter ihm marschieren, und um die große Zahl von Amerikanern, die überzeugt sind, dass Trump um den Sieg betrogen wurde. Der Kolumnist der Washington Post, George Will, eine konservative Koryphäe, schimpfte über den Zynismus prominenter Republikaner wie Senator Ted Cruz (R-Tex.) und Senator Josh Hawley (R-Mo.), die durch ihre Einwände gegen die Bestätigung der Ergebnisse den Glauben der Trump-Anhänger weiter anheizen werden, dass der demokratische Prozess gegen sie manipuliert wurde.

Anmerkung der OÖKN Redaktion: Heute Nacht haben sich weite Teile des Inhalt des Artikels bereits in Realität verwandelt. Vier Tote beim Eindringen  fanatischer Trump-Anhänger im Capitol.